Evolutionäre Erkenntnistheorie
Evolution ist zum zentralen Paradigma unseres modernen, naturwissenschaftlich geprägten Selbstverständnisses geworden. Längst nicht mehr auf Biologie beschränkt, umgreift es viele naturwissenschaftliche Disziplinen, lässt sich aber auch auf die Gesellschaftswissenschaften und die Philosophie anwenden. Auch die ökologische Krise verlangt evolutionäres Denken für ihre Lösung. Eine neue Synthese zwischen den beiden Kulturen von Natur- und Geisteswissenschaft wird gesucht. Sie scheint sich in der Evolutionären Erkenntnistheorie und in der Evolutionären Ethik anzubieten.
Also wird man es begrüßen, wenn naturwissenschaftliches Denken im Evolutionsparadigma auf Gebiete angewandt wird, die früher als philosophisch galten, nämlich Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Ethik. Doch ist es für einzelwissenschaftliche Disziplinen nicht ohne Risiko, philosophisch zu werden. Denn dann werden sie mit Fragestellungen und Begründungspflicht konfrontiert, die für empirische Theorien sonst nicht üblich ist. Diese Ansprüche zu ignorieren oder zu eliminieren befriedigt aus philosophischer Perspektive nicht.
Doch auch besserwisserische Abgrenzung der Philosophie von der Biologie ist nicht gefragt, sondern die Suche nach Anknüpfungspunkten für eine fächerübergreifende Theorie, in der auch die Philosophie bereit sein muss, über eine veränderte Rolle im Disziplinengeflecht nachzudenken.
Die Evolutionäre Erkenntnistheorie verdankt ihr Interesse einer grundlegenden Naturalisierungstendenz in der Philosophie des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Nach der linguistisch-sprachphilosophischen Einführung der Philosophie und Wissenschaftstheorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die neuere evolutionäre Erkenntnistheorie Teil einer naturalistischen und pragmatischen Wende, die sich seit dem Ende des letzten Jahrhunderts vollzieht. Sie ist keineswegs abgeschlossen und wird nicht zuletzt durch die Erfolge der Bio- und Neurowissenschaften, insbesondere der Genetik vorangetrieben. Die Entwicklungen auf diesen Gebieten in den 90er Jahren waren nicht unerheblich. Daher ist es erfreulich, dass zu Beginn des neuen Jahrhunderts eine Neuauflage ein modifiziertes Konzept eines Lehrbuches Evolutionärer Erkenntnistheorie ermöglicht. Dabei ist die disziplinäre Evonäre Erkenntnistheorie (zwischen 1975 und 1990) von einer umfassenderen Beschäftigung mit Fragen kognitiver und moralischer Kompetenzen zu trennen, die mit Darwin begann und deren Fragestellungen seit den 90er Jahren erneut verstärkt diskutiert werden.
Auch die Ergebnisse der Soziobiologie, Autopoiesis-Konzeption und Verhaltensgenetik kognitiver Kompetenzen haben zu Schwerpunktverlagerungen in Fragestellungen der Wissenschaftstheorie der Evolutionsbiologie und in der evolutionären Behandlung erkenntnistheoretischer Probleme geführt. Wie schon die erste Auflage des „Lehrbuches der Evolutionären Erkenntnistheorie“ beschäftigt sich die zweite Auflage mit evolutionärer Erkenntnistheorie aus der Perspektive einer umfassenderen evolutionsbiologischen Betrachtung kognitiver und sozialer bzw. moralischer Kompetenzen, weil sich gezeigt hat, dass eine isolierte Betrachtung kognitiver Kompetenzen gerade aus evolutionsbiologischer (oder soziobiologischer) Sicht inadäquat ist und eine Überwindung der mentalistischen Engführung der Evolutionären Erkenntnistheorie ansteht.
Die traditionelle Erkenntnistheorie ist hinreichend abgeschlossen. Dies trifft auf die traditionelle Evolutionäre Erkenntnistheorie auch zu. Zugleich ist dieser Bereich in einem umfassenden Wandel begriffen. Daher werden grundlegende erkenntnistheoretische Entwürfe vorgestellt und exemplarisch mit den wichtigsten Positionen einer evolutionären Betrachtung von Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Ethik konfrontiert. Aus philosophischer Perspektive werden die unterschiedlichsten Strömungen und Theorien der Evolutionären Erkenntnistheorie und Evolutionären Ethik dargestellt, auf ihre jeweiligen Voraussetzungen befragt und im Theorievergleich kritisch gewürdigt. So soll deutlich werden, welcher Beitrag zu einem
interdisziplinären Forschungsprogramm Erkenntnistheorie erwartet werden darf, der neben Evolutionsbiologie heute Molekularbiologie, Neurophilosophie, Kognitionswissenschaften, Autopoiesismodelle und Künstliche Intelligenz mit umfasst.